Händler der vier Jahreszeiten *)

1971

 

Filmliste Rainer Werner Fassbinder

  

  

  

   

Regie

Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch

Rainer Werner Fassbinder

Regie-Assistent

Harry Baer

Produktion

Tango Film / ZDF

Prod.-Leitung

Ingrid Caven

Ausstattung

Kurt Raab

Kamera

Dietrich Lohmann

Musik

Hauptmotiv "Kleine Liebe" von R. W. Fassbinder, Song "Buona Notte" von Rocco Granata und Archiv-Musik

FSK

ab 18 Jahre

Länge

89 Minuten

Sonstiges

Bundesfilmpreise 1972: Filmband in Gold an Rainer Werner Fassbinder für die Gestaltung sowie an Irm Hermann und Hans Hirschmüller für ihre darstellerische Leistung.

Filmbeschreibung

- www.filmportal.de

- www.fassbinderfoundation.de 

Ur-/Erstaufführung

10.2. 1972 Cinémathèque, Paris, TV-Ausstrahlung 10.3.72 im ZDF

Genre

Drama

  

  

Darsteller

Rolle

Hans Hirschmüller

Hans Epp, Obsthändler

Irm Hermann

Irmgard Epp, seine Frau

Hanna Schygulla

Anna, seine Schwester

Heide Simon

Heide, seine Schwester

Andrea Schober

Renate

Gusti Kreissl

Hans' Mutter

Kurt Raab

Kurt

Klaus Löwitsch

Harry

Karl Scheydt

Anzell

Ingrid Caven

Hans' große Liebe

Peter Chatel

Arzt

Lilo Pempeit

Kundin

Walter Sedlmayr

Verkäufer des Obstkarrens

El Hedi Ben Salem

Araber

Hark Bohm

Polizist

Michael Fengler

Playboy

Rainer Werner Fassbinder

Zucker

Elga Sorbas

Marile Kosemund

Daniel Schmid

Bewerber

Marian Seidowski 

Bewerber

        

 

          

Hans Hirschmüller - Foto: VIRGINIA

Hans Hirschmüller, der den gebeutelten Obsthändler Hans Epp verkörpert

 

© Virginia Shue, Hamburg

starfotos@virginia-hamburg.de

  

Inhalt:

Nach einer Zeit in der Fremdenlegion kehrt Hans (Hans Hirschmüller) zu seiner frostigen Mutter (Gusti Kreissl) und seiner zänkischen Frau Irmgard (Irm Hermann) zurück. Er beginnt ein neues Leben als Obsthändler, der die Ware direkt vom Handwagen in den Hinterhöfen Münchner Mietshäuser verkauft. Seine Schwäche ist der Alkohol. Er soll ihm helfen, seine familiäre Misere und die große Liebe seines Lebens (Ingrid Caven) zu vergessen. Nach einer besonders schlimmen Auseinandersetzung mit seiner Frau erleidet Hans bei einem Familienessen einen Herzinfarkt. Doch er erholt sich und engagiert einen Gehilfen (Karl Scheydt), der sein Freund wird. Was Hans allerdings nicht weiß, ist, dass gerade dieser Mann eine flüchtige Affäre mit seiner Frau hatte. Aus Angst vor Entdeckung dieses Geheimnisses und aus Eifersucht hintertreibt Irmgard die Freundschaft der Männer und dringt auf die Entlassung des Gehilfen. Dies lässt Hans in eine tiefe Depression fallen, die nur kurzzeitig durch das Auftauchen eines alten Freundes aus der Legion (Klaus Löwitsch) unterbrochen wird, der zum Untermieter und Teilhaber wird. Immer weniger interessiert sich Hans für seine Familie und für seinen Obsthandel. Er besucht seine Lieblingsschwester (Hanna Schygulla), aber die hat - gerade in der Endphase einer Übersetzungsarbeit - keine Zeit für ihn, worauf er sich erneut dem Bier und Schnaps zuwendet. In einer langen, quälenden Sitzung, die nur durch Erinnerungen an Verlassensein und Verrat unterbrochen wird, trinkt sich Hans vor den Augen seiner Freunde langsam zu Tode. Frau und Kind haben den Untermieter längst als Hans' Ersatz akzeptiert, weshalb die Geschäfte des Obstverkaufs ohne Probleme weitergeführt werden. Beim Begräbnis ist es lediglich Hans' große Liebe, die um ihn trauert.

 

(Quelle: Thomas Elsaesser: "Rainer Werner Fassbinder", Bertz Verlag GbR, Berlin, 2001, Seite 437, Textübernahme mit freundlicher Erlaubnis des Autors)

  

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Hans Epp kommt von der Fremdenlegion nach Hause, wo er von seiner Familie lieblos empfangen wird. Mit einem Karren zieht er als Obsthändler durch die Hinterhöfe. Der Handel floriert zwar, aber Hans wird wegen dem kalten Egoismus seiner Umgebung, seiner Frau, seiner Mutter und der Freunde immer unglücklicher. In einer Kneipe säuft er sich vor den Augen der anderen zu Tode. Kein anderer von Fassbinders Filmen ist von der Kritik mit so viel Zustimmung aufgenommen worden, er wurde als der "beste deutsche Film seit dem Krieg" gelobt. Was auch heute noch überzeugt, ist die Einfachheit, mit der Fassbinder die Geschichte erzählt, und die Souveränität, mit der er die Figuren mit Emotionen belebt.

 

(Quelle: Xenix Kino, Zürich)

  

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Hans Hirschmüller - Foto: moanafilm

Hans Hirschmüller, der den Obsthändler Hans Epp spielt; hier in "Versöhnung" von Rudolf Thome, 1964

Foto: moanafilm

Händler der vier Jahreszeiten beruht auf einer authentischen Geschichte aus Fassbinders eigener Familie, aber die Familie wird gezeigt, als spielte sie die Hauptrolle in einem Melodram von Douglas Sirk.

 

Der Film bildet den Auftakt zu der Auseinandersetzung mit den Geschlechterrollen, die in späteren Frauenfilmen Fassbinders stattfindet und in denen er indirekt gegen vereinfachende und bequeme Standpunkte in dieser Emanzipationsdebatte polemisiert. Für Fassbinder ist es eine Vereinfachung, ohne weiteres zu behaupten, der Mann in unserer Gesellschaft würde die Frau unterdrücken, und im Händler der vier Jahreszeiten zeigt er daher, welche Macht die Frau innerhalb des familiären Rahmens hat. In der bürgerlichen Familie, die er beschreibt, steht die Frau nach innen als Garantin des gesellschaftlichen Systems, das der Mann nach außen repräsentiert, und das System wiederum zielt darauf ab, die neu heranwachsende Generation in festgelegte Rahmen und Rollen zu zwängen. In diesem Film wird vor allem gezeigt, wie Hans darunter leidet und zugrunde geht, aber er ist unfähig, sich aus seiner Rolle zu befreien und sich überhaupt eine Alternative zu dem Milieu vorzustellen, in dem er nicht leben kann.

  

Der Film beginnt mit einer Rückblende: Hans kommt nach Hause zu seiner Mutter, nachdem er einige Jahre in der Fremdenlegion verbracht hat. Er hat verwirklicht, wovon so viele Fassbinder-Personen vor ihm nur geträumt haben: er ist aus der Bürgerlichkeit in ein exotisches Milieu geflohen. Aber die Flucht war keine Lösung, und er kehrt zurück. Die Mutter ist nicht gerade begeistert, ihren Sohn wiederzusehen - zumal, als er ihr erzählt, dass sein Freund umgekommen ist. "Immer das gleiche. Die besten bleiben draußen, und so einer wie du kommt zurück", ist ihre Reaktion. Hans antwortet, er habe sich verändert, womit er sagen will, er sei der Bürgerlichkeit gegenüber, der er einst den Rücken zugekehrt hatte, freundlicher gesinnt. Aber die Mutter bleibt skeptisch.

Nach diesem Rückblenden-Prolog wird in die Gegenwart gewechselt; Hans ist Obsthändler geworden und bietet in den Hinterhöfen seine Waren feil Seine Frau Irmgard hilft ihm, wacht aber gleichzeitig mit krankhafter Eifersucht darüber, dass er nicht zu lange bei den Frauen bleibt, denen er etwas verkauft. Als ihn eine junge Frau von einem Fenster aus bittet, Birnen heraufzubringen - eine anschließende Rückblende zeigt, dass sie seine große Jugendliebe war -, wirft Irmgard ihm hinterher ungerechterweise vor, länger als nötig bei ihr gewesen zu sein. Verbittert über diese ungerechte Anklage, geht Hans in eine Kneipe und betrinkt sich. Hier erinnert er sich sentimental an seine goldene Zeit als Polizist, und in einer weiteren Rückblende erfahren wir, warum er Obsthändler geworden ist:

Eines Tages bringt er eine Prostituierte auf die Wache, um ein Protokoll aufzunehmen. Sie fängt an, sich die Bluse aufzuknöpfen und ihn anzumachen. Er geht darauf ein, und während sie ihm einen bläst, taucht ein Kollege in der Tür auf und erklärt, dass er darüber Bericht erstatten werde. Als der Kollege gegangen ist, haut Hans der Prostituierten erregt eine runter. Wie immer bei Fassbinder, ist Gewalt Ausdruck frustrierter Sexualität.

In der Kneipe kommentiert der Obsthändler betrunken seinen Abschied von der Polizei: "Natürlich war es gerecht. Was hätten sie den machen sollen sonst? Was denn? Is doch ganz klar, dass... dass so ein Verhalten untragbar is bei der Polizei. Ich beschwer mich ja gar nicht. Wenn ich das nicht selber wüsste, dass... dann wär ich ein schlechter Polizist gewesen, oder? Und ich bin ein guter Polizist gewesen. Ein guter Polizist."

Je mehr der Obsthändler die soziale Unterdrückung akzeptiert, deren Opfer er ist, desto mehr muss er seiner Frau gegenüber auftrumpfen, um einen Rest von Selbstachtung zu bewahren. Als sie in der Kneipe erscheint, um ihn nach Hause zu holen, erfährt sie, wonach sie sich zu richten habe:

"Ich hab gesagt, ich komm nach Hause, wann ich will, oder hörst du schlecht?! Genau dann, wann ich will, komm ich nach Hause. Und keine Sekunde früher. Klar?! Keine Sekunde. Und jetzt hau ab, sonst krachts."

Und als sie nicht schnell genug aus der Tür verschwindet, fliegt ihr ein Stuhl hinterher.

Die Mechanismen sind deutlich, aber nicht übertrieben dargestellt. Je mehr man auf dem einen Gebiet gezwungen wird, sich zu unterwerfen, desto mehr muss man zeigen, dass man auf anderen Gebieten dominieren kann. Seine Frau braucht auch einen Menschen, an dem sie ihre Frustrationen auslassen kann, und keiner eignet sich mehr für diesen Zweck als ihre Tochter. Als sie darauf warten, dass der Vater zum Mittagessen nach Hause kommt, und die Tochter die Zeit damit ausfüllt, sich am Tisch in der Nase zu bohren, haut ihr die Mutter eine runter. Der Kreis der Gewalt schließt sich, als der Obsthändler betrunken nach Hause kommt und anfängt, seine Frau zu verprügeln, weil sie ihn ein Schwein nennt. Die Szene erreicht ihren Höhepunkt in einer dieser einfachen und genial stilisierten Situationen, an denen dieser Film so reich ist: der Obsthändler liegt auf seiner Frau und drischt auf sie ein, die Tochter steht über ihn gebeugt und haut auf ihn ein, und in der Ecke über ihnen allen hängt ein Kruzifix an der Wand. Die Szene ist etwas länger und etwas deutlicher, als sie in Wirklichkeit wäre. So wird pointiert gezeigt, welch unheimlicher Teufelskreis die Kinder in den Fehlern ihrer Eltern und die Eltern in den Klauen der Gesellschaft gefangen hält.

 

Am nächsten Morgen ist Irmgard verschwunden, und Hans ist verzweifelt. Dann kommt eine weitere Rückblende, eine Szene zwischen Hans und seiner Mutter, in der Hans sagt, er wolle Mechaniker werden, während die Mutter verlangt, dass er weiterstudiert und keinen Job nimmt, bei dem man sich die Finger schmutzig macht. Die Szene endet damit, dass Hans ruft: "Ich hasse dich, Mutter", worauf er mit pathetisch stilisierter Geste am Tisch zusammensinkt, voller Ohnmacht der Ordnung gegenüber, die seine Mutter repräsentiert. Anschließend wird zu Irmgard geschnitten, die bei seiner Mutter sitzt und sich darüber beschwert, dass Hans sie in der vergangenen Nacht überfallen habe. Schwester und Schwager des Obsthändlers sind ebenfalls da und bestärken die Mutter darin, dass Hans schon immer ein schlechter Kerl gewesen ist. Nur seine zweite Schwester nimmt ihn in Schutz und sagt, sie hätten ihn ja immer nur verachtet und ihm nie eine richtige Chance gegeben.

 

In der anschließenden Szene, einem stilisierten Höhepunkt des Films, will der Obsthändler seine Frau nach Hause holen. Der Obsthändler ist ganz und gar ungefährlich, als er ankommt und seine Frau anbettelt, ihn wieder mitzunehmen. Nichtsdestoweniger flüchtet Irmgard schreiend in eine Ecke des Wohnzimmers, und der tugendhafte Schwager stellt sich vor sie mit männlicher Brust, die neben dem mickrigen, kleinen Obsthändler extra breit zu sein scheint. Die hysterisch zugespitzte Situation treibt den Obsthändler dazu, auf den Schwager loszugehen. Während die beiden Männer miteinander ringen, greift Irmgard mit herrlich sadistischer Miene nach dem Telefon und ruft ihren Rechtsanwalt an und sagt, sie wolle sich scheiden lassen. Sie führt sich auf wie ein Opfer, während ihr Mienenspiel erkennen lässt, dass sie die Situation sehr wohl im Griff hat. Als sie den Hörer auflegt, singt der Obsthändler starr ein Lied vor sich hin: "Buona, buona, buona notte, alles was man will, kann man nicht haben". Dann greift er sich ans Herz und sinkt bewusstlos auf dem Boden zusammen, während die Familie sich wie die Aasgeier um ihn herumschart. Die Szene ist ein perfektes Beispiel für Fassbinders Ausspruch, Frauen verstünden es, ihre Unterdrückung als effektives Terrormittel auszunützen. Die Szene prägt sich ein durch ihre ikonenhafte Einfachheit, die den Naturalismus, an dessen Grenze der Film sich bewegt, klar überschreitet. Wenn der Schwager die erschrockenen Frauen beschützt wie der Hahn seine Hühner oder wenn der Obsthändler in einen Gesang ausbricht, bevor er in Ohnmacht fällt, haben wir es mit einer opernhaften Stilisierung zu tun, ohne dass die Situationen als Fremdkörper wirken. In seinen dramatischen Höhepunkten steigert sich der Film immer wieder in dementsprechend völlig unnaturalistische Bilder.

 

Während der Obsthändler im Krankenhaus liegt, lässt sich seine Frau von einem Mann auf der Straße aufgabeln und nimmt ihn mit nach Hause zu sich ins Bett. Während des Beischlafs steht plötzlich ihre kleine Tochter in der Tür und sagt mit großen blauen Augen nur das eine Wort: "Mama!" Die Situation ist eine Parallele zu der Szene auf der Polizeiwache, wo der Polizeibeamte seinen Kollegen mit der Nutte beobachtet, und sie demonstriert noch einmal, wie die Kinder die ganze Zeit von dem Ring umschlossen werden, den das Lebensmuster der Eltern um ihre Existenz gelegt hat. Jeder andere Regisseur hätte gezögert und vermutlich darauf verzichtet, eine solch himmelschreiend pathetische Szene zu zeigen, aber Fassbinder liefert sie, ohne mit der Hand zu zittern und ohne die geringste Ironie, und deshalb trifft sie ins Schwarze. Die Szene endet damit, dass sich die Mutter von ihrem Liebhaber losreißt und kurzerhand unter dem Kruzifix im Schlafzimmer weint - diesem merkwürdig ambivalenten visuellen Zeichen, das im Film jenes System repräsentiert, das die Personen verkrüppelt hat, aber auch ein Zeichen des Mitleidens mit den verkrüppelten Menschen darunter ist.

Bei einer früheren Gelegenheit wurde die Mutter übrigens auch von einem Mann auf der Straße angesprochen. Da stand sie "zufälligerweise" vor einem erleuchteten Schaufenster mit Puppen in Brautkleidern, die visuell unterstrichen, dass sie in dieser Situation wie eine Puppe behandelt wurde. Dieses Puppensymbol sollte später eine herausragende Rolle in Fassbinders Bildsprache spielen.

  

Am Krankenhausbett wird der Obsthändler mit seiner Frau vereint. Sie verspricht, bei ihm zu bleiben, aber die stummen, zweideutigen Blicke, die sie in der Stunde der Versöhnung austauschen, verraten, was beide wissen: sie bleibt nur, weil sie jetzt die stärkere ist. Als er wieder zu Hause ist, wird in einer einzelnen grausamen Szene gezeigt, wie definitiv die Rollen nunmehr vertauscht sind. Als sie miteinander schlafen wollen, erklärt Irmgard, dass sie ihn manchmal komisch findet, weil er viel kleiner ist als sie, und dass sie sich überhaupt bloß für ihn interessiert habe, weil er so komisch gewesen sei. Die Mechanik der Szene ist teuflisch: nachdem sie ihm eine Demütigung zugefügt hat, die auf seinen Körperbau anspielt in einer Situation, in der sie sich anschickt seinen Körper zu lieben, erzählt sie ihm, dass er trotzdem in Ordnung ist, aber auf eine Art, die ihn weiterhin tief demütigt. Ihre Taktik entspricht derjenigen, die der Ehemann in Martha bis zur Perfektion anwendet, doch indem Fassbinder hier eine Frau diese Taktik benützen lässt, demonstriert er, dass eine Macho-Haltung genauso gut als Waffe einer Frau gegen einen Mann eingesetzt werden kann.

  

Nach seinem Schlaganfall kann der Obsthändler weder arbeiten noch trinken, und so stellt er einen Mitarbeiter ein, der in den Höfen herumgeht und Waren auf Provision verkauft. Dieser Angestellte ist zufälligerweise der Kunde, den Irmgard an jenem Abend mit nach Hause nahm, und sie ist alles andere als begeistert, als sie ihn wiedersieht und durch ihn an den peinlichen Seitensprung erinnert wird, an den Riss in der kleinbürgerlichen Fassade. Sie heckt einen raffinierten Plan aus, um ihn loszuwerden: Als er sich wieder an sie heranmacht, erklärt sie, sie werde mit ihm ins Bett gehen, wenn er mehr für die Waren nähme, als er mit ihrem Mann abrechnet, und hinterher den kleinen Nebenverdienst mit ihr teilte. Er willigt ein, aber sie weiß genau, dass er entlarvt werden wird, weil ihr Mann ihm hinterherspioniert, wenn er durch die Höfe geht.

Anschließend stellt der Obsthändler seinen alten Freund Harry ein, mit dem er zusammen in der Fremdenlegion war. Das Wiedersehen der beiden Freunde ist herzlich und wird durch eine Umarmung bekräftigt, die, wie so oft zwischen Männern in Fassbinders Filmen, um einiges leidenschaftlicher ist als die Umarmung zwischen Mann und Frau.

Eines Abends schlägt der Obsthändler seiner Frau vor, dass Harry bei ihnen einzieht. Sie protestiert und greift zu den üblichen kleinbürgerlichen Phrasen: "Ich habe nichts gegen ihn, Hans. Aber so eine Wohnung, weißt du, wir sind doch eine Familie, und da braucht man doch einen Platz, wo keiner sonst hingehört. Oder?" 

  

Harry zieht ein, denn der Obsthändler hat seinen Willen durchgesetzt - aber es geht immer weiter bergab mit ihm. Jetzt, der er nicht mehr arbeiten kann und nichts anderes zu tun hat, ist sein Dasein sinnlos geworden. Ohnmächtig sieht er zu, wie Harry nicht nur die Arbeit übernommen hat, die einmal die seine war, sondern auch schrittweise die Familienfunktion des Obsthändlers übernimmt, beispielsweise der Tochter bei den Schulaufgaben hilft. Mit treffender Ironie zeigt Fassbinder, wie der Obsthändler als "Arbeitgeber" vor die Hunde geht, während seine Mutter zum erstenmal stolz auf ihren Sohn ist, weil er nicht mehr selbst mit einem Wagen durch schmutzige Hinterhöfe zieht, sondern seine "eigene" Firma hat.

 

In der Situation des Obsthändlers wird das Denken schließlich völlig destruktiv. Am Ende beschließt er (der Arzt hatte ihm seinerzeit gesagt, Alkohol in größeren Mengen sei wegen seines schlechten Herzens tödlich für ihn), zielbewusst in die Kneipe zu gehen, und zwischen den Schnäpsen, die er in sich hineinkippt, folgt die letzte Rückblende des Films, eine Situation aus der Fremdenlegion in Marokko: ein Marokkaner hat ihn gefangengenommen und droht, ihn zu erschießen. Im letzten Augenblick wird er gerettet, obwohl er eigentlich sterben wollte. "Warum habt ihr mich nicht sterben lassen?" sagt er vorwurfsvoll, und dann kommt der Schnitt in die Gegenwart, wo er tot am Kneipentisch umsinkt. Beim Begräbnis erscheint im Hintergrund die große Liebe des Obsthändlers und trägt einen Strauß Rosen, ähnlich dem, den er mitbrachte, als er vergebens um ihre Hand anhielt. Auch ihre Liebe war kälter als der Tod, und erst nach seinem Tod hat sie seine Rosen in den Arm genommen.

 

(Quelle: Christian Braad Thomsen: "Rainer Werner Fassbinder - Leben und Werk eines maßlosen Genies", Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg, 1993, Seiten 139-146 ff, Textübernahme mit freundlicher Erlaubnis des Autors)

  

 

Pressestimmen

  

Es gibt Leute, die mit Fassbinders Filmen nicht viel anzufangen wissen oder sie einfach grundsätzlich nicht mögen. Nach dem Händler der vier Jahreszeiten werden sie ihre Meinungen revidieren müssen - obwohl bombastische Urteile diesem Film vielleicht unrecht tun: Für mich ist es der beste deutsche Film seit dem Krieg.

Süddeutsche Zeitung, Hans Günther Pflaum

   
Für deutsche Fernsehsender waren Fassbinder-Filme schon immer Mitternachtsfilme. Dass sich daran nichts geändert hat, ist unverständlich ... Fassbinder erzählte knapp und präzise, konzentrierte sich auf das Fassbare, ließ aber den Blick frei auf Hinter- und Abgründe.

Lübecker Nachrichten, Peter Michael, 18.6.1972

   
Die Geschichte hat Fassbinder mit schonungslosem Blick fürs kleinbürgerliche Detail zwischen Wohnküche und Hinterhof in Bilder gefasst, die jeglicher Sentimentalität entraten, aber gerade durch ihre nur scheinbare Distanz in Bann schlagen.

Stuttgarter Zeitung, Hans-Dieter Seidel, 13.3.1972

   
Im sich ständig erweiternden Œuvre Fassbinders dürfte sich dereinst Händler der vier Jahreszeiten retrospektiv als wichtiger Einschnitt erweisen.

epd, Josef Rölz

   
Fassbinder hat damit den gordischen Knoten jungdeutscher Filmästhetik zerhauen. Die Frage, wie man das große Kinopublikum zurückerobern könne, gibt es für ihn nicht mehr. Er ist auf dem besten Wege, dieses Publikum wieder ins Kino zurückzubringen - Fassbinder hat uns daran erinnert, dass alle großen Hollywood-Regisseure nur deshalb groß waren, weil sie sich nicht gescheut haben, ihre sozialkritischen Botschaften in vorgeschriebenen Klischees zu verpacken. Sein Film, dessen Besuch ohne Einschränkungen zu empfehlen ist, ist dadurch einer der wichtigsten deutschen Filme seit Jahren.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Wilfried Wiegand, 31.5.1972  

  

Fassbinder zeichnet dieses Kleineleutedrama sehr anschaulich und einfach, ohne exaltierte Avantgardismen und verschlüsselte Abstraktionen, und doch mit einer Tragikomik, hinter deren gemächlich elegischer Genauigkeit der Hinterhofmilieuschilderung man gesellschaftskritische Tücke spürt.

Wiesbadener Kurier, 13.3.1972

 

Jahrelang herrschte die Ansicht: Was auf dem Bildschirm zu sehen war, hat im Kino keine Chance mehr. Diesmal indessen wurde das Gegenteil bewiesen: In zehn deutschen Kinos gebucht, in einem Münchner Kino hat er sogar den Hausrekord gebrochen.

Der Tagesspiegel, 14.5.1972

 

 

  

Anmerkung:

  

* Wörtliche Übersetzung aus dem Französischen:

Ein umherziehender Obst- und Grünwarenhändler heißt in Frankreich "marchand des quatre-saisons". (rk)

 

  

  

     

    

  

 

  

  

  

  

  

  

  

  

  

  

  

  

  

  

  

   

Layout: Rosemarie Kuheim

Bearbeitet: 10. Oktober 2020

  

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