Wildwechsel
1972
Filmliste Rainer Werner Fassbinder
Inhalt Die 14jährige Hanni (Eva Mattes) beginnt ein Verhältnis mit dem 19jährigen Arbeiter Franz (Harry Baer). Er wird wegen Verführung einer Minderjährigen zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt. Als er auf Bewährung entlassen wird, setzen sie ihre Beziehung fort, und Hanni wird schwanger. Sie fürchtet sich vor dem Zorn ihres Vaters und bringt Franz dazu, den Vater zu töten. Im Gefängnis bringt sie ihr Kind zur Welt, das so verkrüppelt ist, dass es nicht überlebt.
Wildwechsel beruht auf einem Theaterstück von Franz Xaver Kroetz, mit dem Fassbinder früher zusammengearbeitet hatte. Kroetz war in der antiteater-Produktion Zum Beispiel Ingolstadt aufgetreten, und Marieluise Fleißers Dialogform sollte eine entscheidende Rolle für das dramatische Werk Kroetz' spielen. Obwohl die Dialoge in Wildwechsel mit wenigen Hinzufügungen und einigen Streichungen dem Bühnenmanuskript Kroetz' entnommen sind, wirkten sie so "fassbinderisch", weil beide Autoren von Fleißer beeinflusst sind. Wildwechsel gehört zu Fassbinders Analysen des kleinbürgerlichen Lebens, und während im Händler der vier Jahreszeiten Douglas Sirk auf die bayrische Provinz übertragen wurde, ist Wildwechsel eine Art bayrischer James Dean-Film über Generationskonflikte - und Fassbinders einziger "Jugendfilm".
Fassbinder zelebriert bis ins Detail die Ikonographie der 50er Jahre, von der zerknitterten Unterwäsche der Darsteller und dem Bildnis der Jungfrau Maria mit dem Kind über dem Doppelbett bis zu Franz' Moped und Nylonjacke mit einer bunten Landkarte von Korea. Ursprünglich hatte Fassbinder den Film übrigens "Koreanischer Frühling" nennen wollen, womit Franz Xaver Kroetz aber nicht einverstanden war. Aus der Jukebox ist ständig Paul Anka mit "Diana" zu hören und "You are my Destiny", diesen Schlagern der 50er Jahre, die förmlich riechen nach Pickeln, Achselschweiß und Onanie. Das Leben findet auf Sparflamme statt, und zu der sparsamen Lebensform gehören auch wortkarge Dialoge, in denen alle Komplikationen auf Redensarten und Sentenzen reduziert sind, die aber unfreiwillig verraten, dass auch die mühseligen Alltagserfahrungen gewissermaßen in Poesie gemeißelt werden, beispielsweise wenn der Vater lakonisch seine Lebenserfahrung zusammenfasst: "Ohne ein Geld gibt's keine Liebe, und ohne ein Beruf keine Frau." Schon in der ersten Szene wird deutlich, dass alles, was passiert, auf erotische Frustrationen zurückgeht: Hannis Eltern sind an einem Samstagmorgen zusammen im Badezimmer, der Vater schlägt vor, dass sie sich wieder ins Bett legen, aber die Mutter findet, dass sich das nicht gehört. Dann sprechen sie über den wöchentlichen Tippschein. Der Vater weiß, dass es idiotisch ist, ihn auszufüllen, da man ohnehin nie gewinnt, aber genauso idiotisch ist es, vor dem Fernseher zu sitzen und sich das Resultat anzusehen und zu wissen, dass man nicht mitgespielt hat: die Gesellschaft durchschauen zu können bedeutet noch lange nicht, sich darüber hinwegsetzen zu können. Als der Vater sich dann wieder allein ins Bett gelegt hat, kommt die 14jährige Hanni und wirft sich über ihn in einer Mischung aus kindlicher Unschuld und aufflackernder erotischer Glut. Die Mutter ist ausgeschlossen, und was dem Verhältnis der Eltern untereinander fehlt, ist in der Beziehung zwischen Vater und Tochter vorhanden.
Nachdem Hanni sich schließlich mit Franz eingelassen hat, gilt die stille Verbitterung des Vaters auch dem Umstand, dass seine Tochter jetzt das Leben erleben wird, das ihm aus den Händen geglitten ist. Er möchte, dass Franz zum Tode verurteilt wird - und wenn die Behörden das nicht wollen, ist er Manns genug, die Angelegenheit selbst zu regeln. Unter Hitler hätte man so etwas nicht durchgehen lassen. Da wäre so ein Typ ins KZ gekommen. Aber heute ist ja alles anders: "Da spürst es eben doch, dass mir kein Regime mehr habn, sondern eine Regierung." Obwohl der Vater so furchtbare Ansichten vertritt, wird über ihn nicht der Stab gebrochen, sondern er wird als Mensch gezeigt, der anders ist als seine Ansichten. Eine wesentliche Entschuldigung dafür, dass er solche Meinungen hat, liegt in einer dieser resignativen "Fleißerschen" Sentenzen, die eine tiefere Einsicht enthalten, als er selbst weiß: "Mir warn keine Jugend, sondern Soldaten." Und doch sehnt sich der Vater nach den Verhältnissen, die ihm seine Jugend geraubt hatten. Er gibt zu, dass das mit den Juden nicht richtig war, aber ansonsten hätten die Nazis in vielem recht gehabt. Fassbinder hat selten so deutlich wie in diesem Film gezeigt, wie sehr das Kleinbürgertum noch immer von Wertvorstellungen des Nationalsozialismus geprägt ist. Und diese werden an die Kinder weitervererbt. Wenn Hanni keinen anderen Ausweg sieht, als den Vater umzubringen, übernimmt sie die Werte ihres Vaters, so wie dieser die Werte des Nationalsozialismus übernommen hatte. Es ist zwar Franz, der notgedrungen den Revolver betätigt, aber Hanni wiederum wirft sich in orgiastischer Freude über die Leiche des Vaters und badet ihre Hände in seinem Blut. Sie stamm in direkter Linie von den Vampiren in Fassbinders antiteater ab, aber auch von Hitchcocks Psycho, diesem Meisterwerk über den Mord als einem Produkt sexueller Frustrationen: Als die Polizei zum erstenmal kommt und Franz festnimmt, hängen im Vorzimmer seines Chefs einige ausgestopfte Vögel, ähnlich denen, die in Psycho im Hinterzimmer des Wächters Norman Bates hockten und seine Tugend bedrohten. Fassbinders Porträt von Hanni ist doppelbödig. Darum muss er, wenn sie ihrer Mutter versichert, dass sie Franz liebt, nicht nur ein, sondern zwei Spiegelbilder einsetzen, um ihre Aussage zu dementieren. Und wenn Hanni bei Kroetz im Bett mit Puppen spielte, so muss Fassbinder der Deutlichkeit halber auch zeigen, dass sie weiterhin Franz wie eine Puppe behandelt, die man gebrauchen und wegwerfen kann. Er dichtet eine makabre Szene dazu, in der sie mit Franz in ihrem Bett liegt, vom Schlafzimmer der Eltern nur durch eine dünne Wand getrennt, und ihn damit aufzieht, welche Konsequenzen die Kastrationsdrohungen des Vaters haben: "Dich müsstert man kastrieren, einfach wegschneiden und fertig, hat er gesagt." Hannis Kindlichkeit hat nichts Versöhnliches, weil sie nur die Abgestumpftheit der Erwachsenen widerspiegelt. Das wird in der Gefängnisszene am Schluss deutlich, als Hanni resigniert zu Franz sagt, was die Erwachsenenwelt sie gelehrt hat: "Das war keine richtige Liebe. Das war nur körperlich mit uns. Ich hab es dem Gericht gesagt." Und Franz, der sie genug geliebt hat, dass er ihretwegen einen Menschen tötete, liebt sie immer noch so sehr, dass er ihren Gedankengang nicht stören will und ihr darum zustimmt: "Eine richtige Liebe hat uns nie verbunden, das sag ich auch. - Hättst einen Namen gehabt für den Bubn?" Aber aus seinem Blick und seiner wehmütigen Stimme geht hervor, dass es für ihn ganz anders war. Und während er in den Gerichtssaal geführt wird, hüpft Hanni in den Kästchen zwischen den Schatten, die das spärliche Sonnenlicht auf den Fußboden des Korridors zeichnet: das Bild eines verkrüppelten Kindes, das in seinem Wachstum gehindert wurde.
Franz Xaver Kroetz war sehr unzufrieden mit Fassbinders Deutung seines Manuskripts und meinte - zu Unrecht -, Fassbinder habe die Personen "verraten". Kroetz gewann einen Prozess, in dem er verlangte, dass zwei Szenen entfernt wurden, die Fassbinder hinzugefügt hatte. In der einen versucht der Vater, seine Tochter zu verführen, und in der anderen versucht sie, einen Gastarbeiter zu verführen, während ihr Freund im Gefängnis sitzt. Fassbinder rechtfertigte beide Szenen damit, dass sie eigentlich nichts anderes zeigten, als was ohnehin im Manuskript stand. Darin hat er recht, und deshalb schadet es dem Film eigentlich nicht, dass die Szenen gestrichen werden mussten. Vielleicht liegt es an den Schwierigkeiten mit Kroetz, dass Fassbinder sich von Wildwechsel distanzierte und ihn sogar auf die Liste der zehn "ekelhaftesten" neuen deutschen Filme setzte. Dazu besteht kein Grund. Der Film ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie Fassbinder in einer Personenschilderung an der doppelten Perspektive festhalten kann, dass er kritisiert, wofür die Personen eintreten, diese aber trotzdem versteht und sie bis ins letzte verteidigt.
(Quelle: Christian Braad Thomsen: "Rainer Werner Fassbinder - Leben und Werk eines maßlosen Genies", Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg, 1993, Seiten 158-161, Textübernahme mit freundlicher Erlaubnis des Autors)
Layout: Rosemarie Kuheim Bearbeitet: 10. Oktober 2020
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