Generale - Anatomie der Marneschlacht - 1977
Inhalt
Die Marneschlacht zu Beginn des Ersten Weltkrieges lässt die Historiker bis heute darüber streiten, ob Schlieffens Plan ("Macht mir den rechten Flügel stark!") 1914 richtig umgesetzt wurde oder überhaupt durchführbar war. Mit dem für die Deutschen ungünstigen Schlachtausgang ist jedoch weitgehend die Wende zum Stellungskrieg und die Bedingung für die endgültige Niederlage des Deutschen Reiches herbeigeführt worden. Ausschlaggebend waren dabei nicht die Leistungen der kämpfenden Soldaten, sondern die Entscheidungen der militärischen Führer. Damit wird die heutzutage vielfach unterschätzte Bedeutung der Einzelpersönlichkeit in der Geschichte zum unausgesprochenen, aber einprägsamen Grundthema dieses Spiels. Die quellenmäßig belegten Szenen aus dem dramatischen Geschehen des Sommers 1914 werden vom Autor moderiert. Auch einige der handelnden Personen wenden sich außerhalb der Szenen unmittelbar an den Zuschauer. Jeder hat, solange er selber spricht, anscheinend recht. Um so besser werden die unterschiedlichen Perspektiven desselben Vorgangs deutlich.
Der Autor zum Thema: Unstreitig ist, dass 1914 mit dem Rückzug der Ersten und Zweiten deutschen Armee von der Marne und dem anschließenden Rückzug des gesamten Nordflügels der deutschen Westfront der Feldzugsplan gegen Frankreich und damit der gesamte deutsche Kriegsplan scheiterte. Unstreitig ist zweitens, dass dieser Rückzug nicht erzwungen, sondern freiwillig (und zwischen den deutschen Armeeführern umstritten) war. Die Marneschlacht wurde nicht bis zur letzten Entscheidung durchgekämpft, sondern abgebrochen. Es war eine Generalsschlacht, keine Soldatenschlacht. Die Soldaten taten auf beiden Seiten alles und mehr als alles, was ihnen abverlangt wurde - übermenschliche Marschleistungen sowohl wie mörderische Kampfleistungen unter taktisch verfehlten Bedingungen. Sie versagten nirgends, weder die Franzosen noch die Deutschen. Die Deutschen wurden nicht "outfought", aber sie wurden "outgeneralled". Dies hat der deutschen Heeresleitung den Vorwurf eingebracht, "die siegreichen Truppen um ihren Sieg betrogen" zu haben. Das rückt die Charaktere der Generale auf beiden Seiten in den Mittelpunkt des Marnedramas, und zwar sowohl die individuellen Charaktere (die Hamletnatur Moltkes, die Methodik und Rechthaberei des eisernen Preußen Bülow, das Ungestüm und die Ungeduld Klucks, den sächsischen Hausverstand Hausens; die bullige und etwas beschränkte, aber geradliniged Unerschütterlichkeit Joffres, den verzweifelt hasardierenden Wagemut und Eigensinn Galliénis, die mürrische Unberechenbarkeit Frenchs, den intelligenten Widerspruchsgeist Lanrezacs) wie auch den allen gemeinsamen Berufscharakter: Alle Generäle sind Willensmenschen, müssen es sein - wenn sie es nicht sind, haben sie ihren Beruf verfehlt. Aber dieselbe Willenskraft und Unnachgiebigkeit, ohne die sie keine guten Generäle wären, macht sie zugleich zu schlechten Kollegen und schwierigen Unergebenen. Der Marnefeldzug illustriert noch etwas anderes: die eigentümliche Betriebsblindheit der Generäle am Anfang eines Krieges nach langer Friedensperiode unter völlig neuen, unerprobten kriegstechnischen Bedingungen. Alle handeln in solcher Lage, ohne die Bedingungen und Folgen ihres Handelns wirklich zu übersehen, alle tappen (mit ungeheurer Energie) im dunkeln und wissen im Grunde keinen Augenblick wirklich, was sie tun. Die Ironie ist, dass dabei der Allerblindeste, bis zum Schluss in seinen Irrtümern Unerschütterliche (Joffre) sich dem Klügeren, Selbstkritischeren, Tiefersehenden (Moltke) schließlich überlegen erweist. Moltke (68) war nicht nur ein sehr vornehmer Charakter, sondern auch ein außergewöhnlich klarsichtiger und nüchterner Stratege. Aber seine Haupteigenschaft ist eine Tugend, die in seiner Stellung zur Schwäche wird: Bescheidenheit. Jahrzehnte seines Lebens hat er als Adjutant verbracht, zuerst seines großen Onkels, dann des Kaisers. Er ist daher gewohnt, sich unterzuordnen und sich abzufinden. Er braucht Anlehnung. Dass sein Verhältnis zum Kaiser vom ersten Augenblick an gespannt ist, nimmt ihm die innere Sicherheit. Er scheut Szenen, lehnt sich gegen den Kaiser, auch wenn er ihn unmöglich findet, nie auf; wirkt im Kreise seiner Untergebenen immer eher höflich ausgleichend. Das macht ihm sympathisch und ist zugleich eine Tragödie. (ff) Sebastian Haffner
(Quelle: Broschüre ARD Fernsehspiel - März bis Mai 1977, herausg. von der Pressestelle des WDR, Seiten 72-77)
Layout: Rosemarie Kuheim Bearbeitet: 20. November 2022
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