Frau Jenny Treibel
1982
Inhalt
Theodor Fontanes Roman aus der Berliner Gesellschaft, 1893 erschienen, gilt als der witzigste des Autors und soll nach seinen eigenen Worten "das Hohle, Phrasenhafte, Lügnerische des Bourgeois-Standpunktes zeigen".
Exponentin dieses Standpunktes ist die Berliner Kommerzienrätin Jenny Treibel, in die Köpenicker Straße aufgestiegene Tochter eines Kolonialwarenhändlers aus der Adlerstraße, die "fürs Romantische, Ideale, Poetische, Ästhetische, Ethische und Etepetetische"1) schwärmt, ohne dabei jedoch zu vergessen, dass materielle Sicherheit der einzige ernstzunehmende Wertmaßstab ist. Sie lädt Corinna, die Tochter ihres Jugendfreundes, des jetzigen Professors Willibald Schmidt, zu einem Diner ein. Dort entfaltet die intelligente und geistreiche Corinna ihren ganzen Charme und Witz, zum Entzücken des jungen Engländers Mr. Nelson, der Ehrengast der Tafel ist. Tatsächlich aber brennt sie dieses Verbal-Feuerwerk nur ab, um Leopold Treibel, den jüngeren Sohn der Gastgeber, für sich einzunehmen, wie ihr Vetter, Marcel Wedderkopp, der sie liebt, mit schmerzlicher Eifersucht beobachtet. Auf dem Heimweg gibt Corinna Marcel zu verstehen, dass sie entschlossen ist, den ihr geistig und an Vitalität weit unterlegenen Leopold zu heiraten, um sich damit eine bessere gesellschaftliche Position zu erobern. Auf einem Ausflug nach Halensee findet sich einige Tage später die Gesellschaft wieder zusammen. Jenny, am Arm Willibald Schmidts promenierend, beteuert, dass sie "in einfacheren Verhältnissen und als Gattin eines in der Welt der Ideen und vor allem auch des Idealen stehenden Mannes wahrscheinlich glücklicher geworden wäre". Währenddessen entlockt Corinna Leopold Treibel geschickt eine Liebeserklärung und verlobt sich mit ihm. Frau Jenny ist außer sich. Sie "vergisst ihr Sprüchlein von den Herzen, die sich finden und wird praktisch".2) Ihr Widerstand richtet sich nicht gegen die Person Corinnas, sondern gegen die Tatsache ihrer Mittellosigkeit. Zwar versucht der alte Treibel, "der ein guter und auch ganz kluger Kerl"3) ist, seiner Frau das Empörende und Überhebliche ihres Standpunktes klarzumachen, doch der Bourgeois in ihm siegt: "Wenn sie am Ende doch recht hat?" Nun erscheint Jenny eine von ihr bis dahin unterbundene Verlobung ihres Sohnes mit der wohlhabenden Tochter des Hamburger Holzhändlers Munk immer noch wünschenswerter als eine Verbindung mit Corinna. Leopold, der Corinna aufrichtig liebt, beteuert ihr in täglichen Briefen zwar stets aufs Neue seine Entschlossenheit, sich gegen die Mutter durchzusetzen, doch er ist zu weich und energielos, um dem Entschluss die Tat folgen zu lassen. Corinna, tief enttäuscht, und sich allmählich über die Beweggründe der Kommerzienrätin - die beinahe auch ihr eigenes Handeln bestimmt hätten - klar werdend, gibt Leopold frei. Ob sie eines Tages heiraten wird, ist ungewiss. Gewiss ist, dass Corinna ihr Leben selbst in die Hand nehmen will. Vielleicht wird sie heiraten. Sicher wird sie nicht verheiratet werden.
1-3) Paul Schlenther in: Peter Demetz, Formen des Realismus; Hanser, München 1964
(Quelle: Broschüre ARD Fernsehspiel, Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland, Ausgabe Okt.-Dez. 1982)
Layout: Rosemarie Kuheim Bearbeitet: 1. März 2021
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