Die Ansiedlung
1973
Inhalt In Zellhorn an der Küste soll ein neues großes Industriegebiet entstehen. Mit Unterstützung der Landesregierung und der regionalen Verwaltungsorgane sollen hier Grundstoffchemie, ein Aluminiumwerk und ein Kernkraftwerk angesiedelt werden. Man erhofft sich davon einen wirtschaftlichen Aufschwung für die ländliche, bisher als strukturschwach geltende Region. Der Euphorie der Wirtschaft und Verwaltung steht eine herbe Kritik am Vorhaben durch die Bürgerinitiativen und Umweltschützer gegenüber. Unter dem Motto "Rettet die Küste" ist anlässlich der geplanten Grundsteinlegung eine Protestdemonstration der Bürger angekündigt. Grund genug für das Fernsehen, sich des Projektes Zellhorn anzunehmen. Redakteur Hügelmann und der freie Mitarbeitet Jacobs erhalten den Auftrag, einen Film über Zellhorn zu machen.
Hügelmann interessiert an dem herzustellenden Film die Dramaturgie der offenen Form, die Möglichkeit, dokumentarische Sequenzen und fiktive Spielszenen miteinander zu verbinden. Jacobs verspricht sich einen Informationsfilm, gesteigert in seiner Wirkung durch den Einsatz künstlerischer Stilmittel. Fest steht für beide, dass Inhalt und Form des Films erst durch das vor Ort vorgefundene Material bestimmt werden sollen. Als Einstieg in das Firmenvorhaben bieten sich Recherchen bei jener Chemiefirma an, die bereits seit Jahren in Dammburg, einem küstennahen Standort wie Zellhorn weitere Ansiedlungspläne mit einer Investitionssumme von einigen hundert Millionen Mark der Öffentlichkeit vorgelegt hat. Es ist die POC, ein ausländischer Multikonzern. Welche Erfahrung hat man in Dammburg gemacht? Sind diese Erfahrungen auf Zellhorn übertragbar? Jacobs und Hügelmann stoßen bei ihren Recherchen auf widersprüchliche Aussagen, die kein klares Bild ergeben. Die Vertreter des POC-Managements verweisen voll Stolz auf die hohe Investitionssumme, auf die Schaffung von Arbeitsplätzen, auf Umweltschutzmaßnahmen, die allein 15 Prozent der Investitionssumme ausmachen. Sie beklagen aber die Verzögerung von weiteren Investitionen durch Verwaltungsklagen und Prozesse, in die sie durch ein paar "unbelehrbare und fanatische" Umweltschützer verwickelt sind.
Gemeint ist die Bürgerinitiative mit ihrem Vorsitzenden Heyden. Dieser Heyden hat seine Apotheke verkauft und kämpft schon jahrelang vor Gericht gegen die POC, um den weiteren Ausbau zu verhindern oder doch wenigstens verstärkte behördliche Umweltschutzauflagen durchzusetzen. Heyden hält die Umwelt durch die POC in höchstem Maße für gefährdet. Es sind nicht nur die umweltbelastenden Emissionen bei Normalbetrieb des Werkes, sondern einige Leckagen - aus Sicht der Betriebsleitung unvermeidbare Anfangsschwierigkeiten - haben bei Heyden die Furcht wachsen lassen, dass sich eines Tages bei der POC der große Katastrophenfall ereignen könnte. Dafür scheint auch die Ablösung des Gewerbeaufsichtsbeamten Niederdrenk zu sprechen - in Heydens Augen eine Strafversetzung wegen allzu genauer Kontrolle der POC-Aktivitäten, nach Lesart der Behörden hingegen eine Beförderung.
Immer mehr Widersprüche tun sich vor Jacobs und Hügelmann auf, je weiter sie in die komplette Materie eindringen. Die Vertreter der Industrie und der Genehmigungsbehörde haben manches gute Argument vorzubringen, andererseits machen die Vertreter des Umweltschutzes nicht immer die beste Figur, angefangen vom Aufsichtsbeamten Niederdrenk, der ein Verhalten an den Tag legt, das nicht unbedingt mit dem Bild des preußischen Beamten in Übereinstimmung zu bringen ist, der unerschrocken seine Pflicht erfüllt, bis zum Ornithologen Dr. Steiger, dessen Umweltsicht sich als sektiererisch verengt erweist. Angesichts der Flut von widersprüchlichen Fakten, Ein- und Ansichten, mit denen Jacobs und Hügelmann bei ihrer Arbeit am Film konfrontiert werden, wird die Frage nach dem eigenen Standort unausweichlich. Auch bei den Filmemachern zeigen sich Widersprüche, nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringenden Ansichten. Hügelmann ist bereit, sich mit einer pragmatischen Beschreibung des Istzustandes zufrieden zu geben. Jacobs, ein romantischer Träumer des Industriezeitalters, sucht nach gesellschaftlichen Lösungsmodellen, in denen eine Harmonisierung der gegenwärtigen Widersprüche und Konflikte möglich wird. Für ihn bestimmen nicht die Besitzverhältnisse bei den Produktionsmitteln den Zustand der Welt, sondern die Art und Weise der Produktion, also was und wie produziert wird.
Jacobs und Hügelmann werden sich über die Standortfrage ebensowenig einig wie über Inhalt, Aussage und Stilmittel des gemeinsam zu produzierenden Films. Wie der Film aussehen wird, ist am Ende eine Machtfrage. Für die Abnahme des geschnittenen Materials durch Abteilungsleiter Dr. Fürstenberg hat Hügelmann ohne Wissen von Jacobs einen zweiten Schluss herstellen lassen.
Dr. Fürstenberg trifft dann auch gegen die Intentionen von Jacobs eine eindeutige Entscheidung zugunsten der von Hügelmann vorfabrizierten Schlussvariante. Jacobs skeptischer, fragender Schluss - der zeigen sollte, wie die Demonstranten, die gegen die Industrieansiedlung in Zellhorn protestieren, von der Polizei verprügelt werden - wird wegen seiner emotionalisierenden Wirkung eliminiert. Statt dessen wird der Film mit der Optimismus ausstrahlenden Grundsteinlegung und der positiven Rede des Ministers enden. Ein Schluss, der die gebotenen Prinzipien der Objektivität und der Ausgewogenheit hinreichend beachtet.
(Quelle: Broschüre "Das Fernsehspiel im ZDF", Heft 13, Juni bis August 1975, S. 3-9, Hrg. Zweites Deutsches Fernsehen, Informations- und Presseabteilung / Öffentlichkeitsarbeit)
Layout: Rosemarie Kuheim Bearbeitet: 17. November 2020
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