Die Klassefrau

1982

 

Filmliste Rainer Wolffhardt

 

  

  

Regie

Rainer Wolffhardt

Drehbuch

Jochen Ziem

Schnitt

-

Produktionsleitung

FFG Film- und Fernseh-GmbH Berlin

Redaktion

Helmut Rasp

Kamera

Hans Jura, Carl-Friedrich Koschnik

Kostüme

-

Szenenbild

-

Länge

1 Std. u. 39 Min.

Sonstiges

-

FBW-Bewertung

-

Ur-/Erstaufführung

18. Oktober 1982

Genre

Fernsehspiel

  

  

  

Darsteller

Rolle

Viola Sauer

Hertha
Detlef Kessler Claus
Ulrike Blome Luise
Inge Wolffberg -
Michael Chevalier -

                  

 

 

Inhalt  

 

Claus kommt aus dem Berliner Arbeitermilieu. Gerade aus der Jugendhaft entlassen - er hat wegen geringfügiger Diebstähle gesessen -, lernt er Hertha kennen. Ihr Selbstbewußtsein imponiert Claus, und auch sonst findet er: Sie ist eine "Klassefrau". Bei Hertha, die frisch geschieden ist und etwas älter als er, erhält Claus eine Unterkunft. Zunächst geht alles gut. Hertha, zudem eine überzeugte Nudistin, nimmt ihn sogar mit zu einem gemeinsamen FKK-Urlaub. Eines Tages aber eröffnet sie dem verdutzten Claus, dass sie mit ihrer Freundin einen Buchladen aufmachen will - und auch mit ihr zusammenzieht. Für Claus bricht eine Welt zusammen ... Der Film "Die Klassefrau" erhielt bei seiner Erstausstrahlung im Jahre 1982 einen besonders positiven Anklang, sowohl bei Zuschauern und Presse. Diese Produktion, von Rainer Wolffhardt inszeniert, wurde mit mehreren TV-Awards ausgezeichnet. Für die Titelrolle wurde Viola Sauer engagiert, die zuvor schon durch die Fernsehserie "Gestern gelesen" und diverse Fernsehspiele einem breiten Publikum bekannt war. In weiteren Hauptrollen sind u.a. Detlef Kessler, Ulrike Blome, Heidrun Kussin, Roland Nitschke, Friedrich W. Bauschulte und Joachim Tennstedt zu sehen.

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Autor Jochen Ziem zu seinem Drehbuch:

 

Eines nachts im Frühjahr 1970 klingelt mein Telefon, was ich sehr ungewöhnlich fand. Jeder meiner Freunde weiß, dass ich nachts nicht zu sprechen bin. Ich zögerte, ob ich abheben oder warten sollte, bis sich das Problem des Anrufers von selbst gelöst hatte. Doch die Telefonklingel signalisierte eine solche Unnachgiebigkeit, dass ich schließlich nach dem Hörer griff. "Ich kann nicht mehr!" sagte Claus auf der anderen Seite. Dann weinte er nur noch.

 

Ich kannte Claus seit zwei Jahren. Hertha, die geschiedene Frau eines Frankfurter Managers, hatte ihn in unseren Kreis gebracht. Sie hatte ihn auf einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg kennen gelernt. Claus war ungelernter Arbeiter, verdiente seine Kröten als Packer in einem Kaufhaus, war Halbwaise, Heimkind und ein ehemaliger Knacki; er hatte gesessen wegen geringfügiger Diebstähle. Wir, ein Haufen von Schreibern, Malern, Studenten und geschiedenen Frauen, die nach neuen Wegen suchten und die wir uns in Berlin zur außerparlamentarischen Opposition zählten, wir, die wir meinten, die Interessen der Arbeiter zu vertreten, aber keine Arbeiter kannten, auch keinen Kontakt zu ihnen fanden, wir hatten endlich unseren Renommierproletarier.

 

Doch für Claus war die Apo uninteressant. Auf der Demo war er nur aus Langeweile mitgelaufen und vielleicht auch, um zu gucken, ob sich dort eine "Puppe abstauben" ließe. Er hatte Erfolg und war doch für Hertha eine grobe Enttäuschung: Er besaß überhaupt kein "politisches Bewusstsein". Er döste in den Tag, träumte von einem großen Lottogewinn, las die schlechtesten Zeitungen. Begriffe wir "Klassenkampf" oder "Befreiung der Arbeiterklasse", wie sie gerade wieder in Mode gekommen waren, wirkten auf ihn nur lächerlich. Der Krieg in Vietnam beschäftigte ihn so wenig wie der Mann im Mond.

Hertha fand ihn empörend, doch sie nahm sich seiner an, weil er gut aussah, zärtlich sein konnte, zehn Jahre jünger war als sie und lernbegierig wirkte. Hertha hatte einen neuen Mann, der ihr nicht gefährlich werden konnte. Sie war in dieser Partnerschaft die Autorität. Obwohl sie nur ein abgebrochenes Kunststudium vorzuweisen hatte, wusste sie unendlich viel mehr als Claus; auch hatte sie von ihrem Ex-Mann gelernt, der von Adorno gebildet worden war und Politiker werden wollte, bevor er in der Werbewirtschaft versackte.

 

Hertha entwarf ein Kultur- und Politprogramm für Claus, das er neugierig akzeptierte. Er wurde von uns ins Theater, in moderne Filme, zu Lesungen und politischen Veranstaltungen geschleift, und er ließ das mit sich geschehen, wie sich ein Kind von seinen Eltern durchs Leben schleifen lässt.

 

Claus lernte schnell, aber zunächst immer nur die Häfte. Er begann, Meinungen und Ansichten zu formuliere, die er von uns aufgeschnappt hatte, doch auch nur deren Hälfte. Da wurde er Hertha peinlich. Sie konnte nicht akzeptieren, dass er zwangsläufig langsamer lernen musste als wir; denn er hatte das Lernen nicht gelernt.

Sie isolierte ihn von uns. Wir sollten nicht Zeuge werden, wie er Halbgares von sich gab. Sie wollte nicht, dass wir gelegentlich über ihn lächelten. Sie zog sich mit ihm in eine symbiotische Einsamkeit zurück. Monatelang las sie ihm Abend für Abend vor, weil Klaus nur mit Mühe lesen konnte. Sie zwang ihm den Besuch eines Abendgymnasiums auf. Sie überforderte ihn maßlos und beschimpfte ihn, wenn er nicht die Lernerfolge vorzeigen konnte, die sie von ihm erwartete.

 

Claus liebte Hertha inzwischen. Sie war die Klassefrau für ihn. Sie belehrte ihn nicht nur, sie vergnügte ihn auch.  Sie besaß ein Auto und zeigte ihm Europa. Schon der Harz hätte ihm gereicht, denn er war noch nie aus Berlin hinausgekommen. Doch er konnte nicht Schritt halten mit ihr. Hertha hatte inzwischen ein Studium an der Sozialakademie begonnen. Auch mit dem Stoff der Akademie wurde er konfrontiert.

 

Als er mich anrief, war er gerade wieder einmal zusammengebrochen. Und diesmal endgültig. Er war bei ihr ausgezogen. Er hatte begriffen, dass sie ihn auch ausnützte, dass sie ihn brauchte, um sich über ihn zu erheben. Freilich hatte er auch verstanden, dass er begann, das Leben zu lernen, und dass er sich - zunächst in der Gewerkschaft - engagieren musste, um Identität zu gewinnen.

In dieser Nacht, immer noch hoffend, es gäbe einen Weg zurück zu einer Hertha, die ihn so akzeptierte, wie er nun einmal war, erzählte er mir zwei Stunden lang sein ganzes Leben, vielleicht in der Annahm, dass er Herthas Mitgefühl gewinnen könne, wenn er sich meines Mitgegefühls sicher sein durfte.

 

Die Zeit der sogenannten Tendenzwende kam. Hertha brauchte Claus nicht mehr. Sie vergaß ihn. Claus wird seine Klassefrau nie vergessen. Sie hat sein Leben verändert und ich habe eine Erzählung aus dem Zusammentreffen beider Menschen gemacht. 1974 erschien bei Luchterhand mein Erzählband "Die Klassefrau", der inzwischen vergriffen ist. Rolf Hochhuth hat meine Titelgeschichte gerade in der Erzählungs-Anthologie "Die Gegenwart"bei Kiepenheuer & Witsch neu herausgegeben.

Von Anbeginn war mir klar, dass dieser Stoff auch genügend Material für einen Film hergab. Doch 1974 war die Apo schon nicht mehr "in". Mehrere Sender lehnten meinen Film ab: Nicht mehr interessant, hieß es. Zu teuer, denn das ist ja schon ein historischer Film. Also vergaß ich das Projekt.

 

Ich verdanke es einem Kollegen, dass die Geschichte von Hertha und Claus jetzt doch gedreht worden ist. Warum, fragte mich der Kollege, holst du die Geschichte nicht in die Gegenwart hinein? Solche Konstellationen, dass sie eine engagierte, aber noch unsichere Frau mit einem jüngeren, noch hilfloseren Mann zusammentut, um sich in seiner Bewunderung zu sonnen, die muss es auch heute geben. Such einen neuen Ausgangspunkt für die Story. - Und diesen neuen Ausgangspunkt besaß ich längst, ohne ihn als solchen erkannt zu haben. Denn seit Jahren beschäftigen sich Frauen in meiner Umgebung mit der neuen Frauenbewegung, tun es begeistert, suchen eine neue Rolle für sich, tun es gekonnt oder ungekonnt, sind vorsichtig oder kränkend und beleidigend, rücksichtsvoll oder rücksichtslos, anmaßend, unangemessen, fordernd oder interessiert fragend und forschend; die einen bedienen sich wissenschaftlicher Methoden, die anderen nehmen den Holzhammer, je nach psychischem Vermögen, Temperament, Lebenserfahrung. In jedem Fall habe ich durch sie gelernt und mich selbst neu erfahren.

 

Was lag also näher, Hertha von heute, die Geschiedene und durch ihren Exmanager nicht gerade geförderte Frau, sich der Frauenbewegung nähern zu lassen, der ein Mann wie Claus gerade recht sein muss: als Studienobjekt, als Teddy, als ungefährlicher Begleiter, als staunender Reisegefährte? Was lag näher, dass der Knacki Claus Anschluss an die Alternativen sucht?

Eine Kritik habe ich zu meinem Drehbuch bereits vernommen, freilich kommt sie von einem sehr konservativen und nicht mehr sehr wandlungsfähigen älteren Herrn: eine widerliche Anbiederung an Emanzen und Alternativos?

Diese Kritik verspricht mir einen Erfolg bei den Menschen in unserem Land, die ich erreichen möchte: Hertha und Claus in Millionenauflage.

 

 

 

 

(Quelle: Broschüre "Das Fernsehspiel im ZDF", Sept. bis Nov. 1982, Seiten 26-29, herausg. vom ZDF, Information u. Presse/Öffentlichkeitsarbeit) 

  

  

   

   

   

   

   

   

    

   

   

  

Layout: Rosemarie Kuheim

Bearbeitet: 25. Juni 2024

  

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