Die Geschichte der Susanna Margaretha Brandt
1977
Inhalt Dass Dichter und Schriftsteller seit jeher ihre Heldengestalten oft aus der Geschichte und Zeitgeschichte nahmen, ist wohl allgemein bekannt. Vom antiken Perserkönig Xerxes bis zum britischen Premierminister Winston Churchill (in Rolf Hochhuths "Die Soldaten" boten historische Persönlichkeiten immer wieder Anlass, Fragen der politischen, öffentlichen und privaten Moral, der Staatsräson, der Beziehungen zwischen Menschen und Völkern in künstlerischer Verdichtung abzuhandeln. Andere Meisterwerke der Literatur werden dagegen gemeinhin als Schöpfungen der freien Fantasie und Intuition des Autors angesehen, während in der Tat auch hier minderbedeutende, wenn auch weniger prominente Personen und weniger bekannte Ereignisse Ausgangspunkt der Dichtung waren. So etwa die Geschichte der Frankfurter Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt, eines der Vorbilder zu Goethes "Gretchen-Tragödie". Mildernde Umstände? Der Verteidiger der Susanne Margaretha Brandt, Dr. Schaaf, schreibt im November 1777 in seiner Eingabe an den Rat der Stadt Frankfurt: "... man muss die unglückliche Situation, in der sich meine Mandantin befand, in ihrem ganzen Umfang überdenken, wenn man begreifen will, wie das alles geschehen konnte... von ihrer Brotherrin verstoßen, in äußerster Armut, ein paar Kreuzer machen neben wenigen schlechten Kleidungsstücken ihren ganzen Besitz aus: unwissend, wer der Mann war, der sie geschwängert hat, und außerstande, seinen Namen und Aufenthaltsort festzustellen, um von ihm den Unterhalt des Kindes zu erlangen; nicht in der Lage, es selber zu ernähren: der Schande und der Verachtung der Umwelt preisgegeben... all diesem Jammer glaubt sie zu entgehen, wenn sie Hand an ihr Kind legt und den unglücklichen Zeugen ihrer Schande beseitigt..." Mildernde Umstände? Der Rat der Stadt Frankfurt ließ Susanna Margaretha Brandt vor der Hauptwache hinrichten.
DAS DREIFACHE GRETCHEN von Gerd Angermann Am 14. Januar 1772 wurde in Frankfurt am Main die Kindesmörderin Susanna Margaretha Brandt auf dem Platz vor der Hauptwache hingerichtet. Die Prozessakte befindet sich heute im Frankfurter Stadtarchiv.
Gerade ein halbes Jahr zuvor, im Sommer 1771, war Johann Wolfgang Goethe von seinem Studium in Straßburg (und nach seiner Affäre mit dem Sesenheimer Pfarrerstöchterlein Friderike Brion) in seine Vaterstadt zurückgekehrt und hatte sich als Anwalt niedergelassen. Zur Zeit der Verhöre im Kriminalfall Brandt hielt er sich nahezu täglich im Römer auf. Der frischgebackene Advokat verfocht hier die Sache Heckel gegen Heckel, Sohn gegen Vater, um den Besitz einer Porzellanfabrik. Gleichzeitig vertrat er den Metzgermeister Hemmerich in Hausbausachen gegen seine Nachbarn. Der Prozess gegen die "Brandtin" kann dem jungen Goethe schon allein deshalb nicht entgangen sein. Trotzdem wird er in "Dichtung und Wahrheit" mit keinem Wort erwähnt. Auch anderwärts fehlt jeder Hinweis darauf. Der Dichter schweigt sich so gründlich aus, dass fast der Anschein der Camouflage entstehen könnte.
So gilt denn auch für die Faust- und Goetheforscher bis in die 20er-Jahre unseres Jahrhunderts die Gretchentragödie als die "reine große Erfindung" des Dichters, der auf diese Weise ein in seiner Zeit aktuelles forensisches Thema in Literatur ummünzte.
Dieses Postulat war jedoch nicht länger aufrechtzuerhalten, als in den vierziger Jahren im Frankfurter Goethehaus eine Abschrift des Prozessprotokolls gefunden wurde. Nun endlich begann man genauer hinzusehen, und plötzlich entdeckte man so zahlreiche Querverbindungen, so vielfältige Beziehungen zwischen allen möglichen am Prozess beteiligten Personen und dem Hause Goethe, dass man fast den Anschein gewinnen konnte, es habe sich um ein Stück innerhalb der Goetheschen Haus- und Familiensphäre gehandelt.
Nach ihrer Verhaftung und einem kurzen Hospitalaufenthalt ist das Gefängnis der Delinquentin ein volles Vierteljahr lang der Turm der alten Katharinenpforte am Ausgang des Hirschgrabens, kaum 200 Meter von Goethes Elternhaus entfernt und bloß ein paar Schritte hinter der Katharinenkirche gelegen, wo die Goethes ihre Plätze hatten. Jeder Weg zur Zeil, zum Haus des Textors, jeder Kirchgang führte unter dem Turm des Gefängnisses hindurch. Der erste Arzt, der Susanna Magdalena Brandt auf den Verdacht der Schwangerschaft (mit negativem Befund) untersuchte, ist Dr. Friedrich Metz, ein naher Bekannter Goethes. Der zweite untersuchende Arzt (der auch zu keinem besseren Ergebnis kam) war Dr. Burggrave, Hausarzt der Familie Goethe schon vom Stadtschultheißen Textor her. Der handschriftliche Steckbrief, mit dem die Flüchtige nach Entdeckung der Kindesleiche im Gasthaus "Einhorn" gesucht wird, ist abgefasst von Johann Heinrich Thym. Besagter, ein städtischer Schreiber, hat neun Jahre lang die Kinder Johann Wolfgang und Cornelia als Hauslehrer unterrichtet. Scharfrichter Hoffmann sen., der die Hinrichtung ausführen soll, wird die heikle Aufgabe mündlich von Bürgermeister Reuß und Senator Johann Jost Textor angetragen. Johann Jost Textor aber ist ein Onkel Goethes mütterlicherseits. Als Hoffmann sen. tags darauf schriftlich ablehnt und bittet, seinen Sohn mit der Aufgabe zu betrauen, geschieht dies durch eine schriftliche Eingabe. Sie ist abgefasst von einem Dr. Schlosser. Er aber ist der Kompagnon des frisch zugelassenen Jungadvokaten Goethe und wird später dessen Schwager.
Im vierten Buch von "Dichtung und Wahrheit" findet sich ein dunkler Hinweis. Dort heißt es an einer Stelle Es fehlte in der bürgerlichen Ruhe und Sicherheit nicht an grässlichen Auftritten. Bald weckte ein Brand uns aus unserem Frieden, bald setzte ein entdecktes großes Verbrechen, dessen Untersuchung und Bestrafung die Stadt auf viele Wochen in Unruhe. Wir mussten Zeugen von verschiedenen Executionen sein. Tatsächlich haben in Goethes Jugendzeit aber nur zwei Exekutionen in Frankfurt stattgefunden: 1758 die Hinrichtung der Kindesmörderin Anna Maria Fröhlich (damals war Goethe noch ein Kind) und eben 1772 die Exekution der Susanna Margaretha Brandt. Nur ihr Schicksal kann mit dem "entdeckten großen Verbrechen" und dessen "Untersuchung und Bestrafung" gemeint sein.
Dass Goethe trotz beharrlichem Verschweigen hier sein Vorbild (oder wenigstens seines seiner Vorbilder) für das Gretchen gefunden hatte, lässt sich durch zahlreiche Übereinstimmungen belegen. Das schwangere Gretchen befällt zum erstenmal während der Ostermesse Unwohlsein, die Nachbarin reicht das Fläschchen. Genau das Gleiche ist laut eigener Bekundung der Susanna Margaretha Brandt widerfahren. Mephistos höhnische Bemerkung "Sie ist die erste nicht!" findet sich gleich zweimal wörtlich so im Prozessprotokoll. Als Vater des indes bezeichnet die Brandt einen holländischen Goldschmiedgesellen, der nach Russland weitergereist sei. Im Faust heißt es: "Ein flinker Jung / hat anderwärts auch Luft genug. / Er ist auch fort." Und in der Kerkerszene sieht Gretchen visionär, was der junge Goethe in Frankfurt mit eigenen Augen mit angeschaut haben mag: "Die Menge drängt sich, / man hört sie nicht. / Der Platz, die Gassen / können sie nicht fassen..." Am Tag der Urteilsvollstreckung war halb Frankfurt auf den Beinen, über die Stadt war aus Sicherheitsgründen- heute würden wir sagen - der Belagerungszustand verhängt. Dennoch ist die Frankfurter Dienstmagd ganz sicher nicht die einzige gewesen, die Goethes Gretchenfigur beeinflusst hat: 1765, sieben Jahre vor dem Frankfurter Prozess, lebt Goethe als Student in Leipzig. Dort dürfte er, der stets ein wacher und interessierter Beobachter von Zeitereignissen war, auch den damals in ganz Nord- und Mitteldeutschland verbreiteten Steckbrief gelesen haben, mit dem nach einer flüchtigen Kindesmörderin aus Stralsund gefahndet wurde: Maria Flint. Als sich die Gesuchte bald darauf freiwillig stellte (und in einem Halsgerichtsprozess zum Tode verurteilt wurde), brachten die Gazetten lange und ausführliche Berichte. Kaum glaublich, dass sie dem jungen Studiosus in Leipzig entgangen sein sollten.
Die Stralsunderin Maria Flint weist von allen möglichen Gretchenvorbildern die meisten (äußeren) Ähnlichkeiten mit der Figur der Dichtung auf. Wie diese entstammte sie (im Gegensatz zur Proletarierin Brandt) einer einfachen, aber angesehenen Bürgerfamilie. Sowohl Gretchen wie Maria haben keinen Vater mehr. Marias Mutter ist erst vor kurzem verstorben, wobei unklar ist, ob ihr Tod mit dem Kummer über die Schande der Tochter zusammenhängt; auch Gretchen verliert die Mutter wenige Monate vor der Geburt des Kindes. Bei beiden Verführern (bei Faust ebenso wie bei dem schwedischen Offizier Johann Dyke, der der Vater von Marias unehelichem Kind ist) wird die Schuld noch durch eine besondere "Blutschuld" erhöht: Faust tötet den braven Soldaten Valentin wegen Gretchen; in Stralsund widerfährt das gleiche Schicksal einem Unteroffizier im Streit um Maria. In beiden Fällen wird der Verführer von ehrlicher Reue gepackt. Der Schwede schafft zur Befreiung der Geliebten aus dem Kerker eine erhebliche Geldsumme herbei; er hat erklärt, nie wieder ruhig schlafen zu können, wenn das Todesurteil vollstreckt würde. Ähnlich Faust: Sobald er von Gretchens Einkerkerung hört, schlägt ihm das Gewissen. "Als Missetäterin im Kerker, zu entsetzlichen Qualen eingesperrt, das holde, unselige Geschöpf!" Gretchen hat ihr Kind ertränkt (obwohl der Stich mit der Nadel in Kindsmordfällen damals viel verbreiteter war); auch hier folgt sie Maria, die das gleiche getan hat. Gretchen lehnt die angebotene Befreiung mit den Worten ab: "Was hilft es fliehen? Sie lauern mir doch auf... Und sie werden mich ergreifen." Maria sagt, als man sie aus dem Kerker befreit: "Ach, sie holen mich da doch!" Susanna Margaretha Brandt lag im Frankfurter Turm nicht in Ketten. Maria Flint wird in Stralsund, nachdem sie sich gestellt hat, in Ketten geschlagen. Und Gretchen finden wir gleichfalls angekettet: "Die Ketten klirren... Er fasst die Ketten, sie aufzuschließen..." Wie kam Goethe darauf?
Es war nicht meine Aufgabe, den Literaturgeschichtsdetektiv zu spielen. (Dass ich mich trotzdem auf diesem Gebiet ein wenig versuchte, zeitigte die - für mich! - interessantesten und verblüffendsten Ergebnisse. Siehe oben.) Denn von Anfang an war nicht geplant, dem oder den historischen Vorbildern der Goetheschen Gretchenfigur in einem Dokumentarspiel nachzuspüren. Beabsichtigt war vielmehr, was verwirklicht wurde: die Darstellung des durch die vollständigen Prozessakten belegten Schicksals der Frankfurter Dienstmagd Susanna Magdalena Brandt; eines tragischen Frauenschicksals der Goethezeit, aus dem einzelne Züge in die Gretchentragödie eingeflossen sind.
(Quelle: Das Fernsehspiel im ZDF, Heft 18, September - November 1977, herausgegeben vom Zweiten Deutschen Fernsehen, Informations- und Presseabteilung/Öffentlichkeitsarbeit)
Layout: Rosemarie Kuheim Bearbeitet: 31. Oktober 2020
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