Der Schiedsrichter 1984
Inhalt Lärmend bricht die Baukolonne in die Idylle eines alten Sportstadions ein. Die Tribüne soll abgerissen werden. Bevor die Planierraupe ihr Zerstörungswerk beginnen kann, schickt man vorsorglich noch einen Mann in die unterirdischen Gänge. Könnte ja sein, dass sich dort eine Katze eingeschlichen hat. Der trübe Schein der Taschenlampe huscht übers brüchige Gewölbe. Es tropft. Da, am Ende des Ganges - Licht! Immer deutliche zu vernehmen eine menschliche Stimme... zweiunddreißig, dreiunddreißig, vierunddreißig! "Tatort"-Stimmung? Ist eine Leiche fällig? Mitnichten. Jemand zählt die Kniebeugen. Wer hält sich in dieser trostlosen Umgebung fit? "Schiedsrichter" steht an der Tür, aber das letzte Spiel im Stadion wurde vor Jahren angepfiffen. Nach mehrfachem Klopfen öffnet sich endlich die Tür. Ein alter Mann erscheint, Karl Bisst, der sich über den Besuch erfreut zeigt. Er hält die Leute vom Bau für Abgesandte des Internationalen Schiedsrichterverbandes mit einem höchst wichtigen Auftrag.
So wird die Hauptfigur des Fernsehfilms "Der Schiedrichter" ins Spiel gebracht. Dieser Karl Biesst haust seit Jahren zwischen Moder und Hoffnung, stündlich als Schiedsrichter reaktiviert zu werden. Da hilft jetzt kein Reden und Überzeugenwollen: Diese Stunde ist offenbar angebrochen, und er ist bereit, sie zu nutzen, in jedem Fall ganz anders, als Bauarbeiter, Polizisten, Krankenpfleger, Therapeuten, Altersheimdirektoren, Richter und sonstige Fußballfremde es sich vorstellen wollen.
Dieser Schiedsrichter Karl Bisst ist demnach eine komische Figur? Einer, dessen wohl sehenswerter Wahn verspricht, ein Publikum zu unterhalten? Nicht nur, sondern auch. Er ist unseren Schicksalen angenähert, wenn er erfährt, dass man Wirklichkeit eigentlich nicht aushält. Dieses Bild trägt er immer mit sich herum: Wie seine Frau ihn damals aus der engen Garagenausfahrt herauswinkte, wie er ihr Handzeichen im Sinn von Fußballweisungen falsch deutete, wie er sich schließlich unter dem Hinterreifen liefen sieht. Um an den Unfall mit Todesfolge zu schuldig zu sein, flüchtete sich damals Karl Bisst in die Welt des Fußballs. Was vorher angenehme Freizeitbeschäftigung war, wurde für ihn zum tagundnachtfüllenden Lebensersatz. Die fixe Idee: Zitadelle im anbrandenden Strom der Fußballfeinde zu sein, die ihm ans Leder wollten. Der durch Fähnchen begrenzte grüne Rasen des Spielfeldes markierte nun ein Lebensterritorium, in dem klare Regeln herrschten und eventuelle Zweifelsfälle von seiner Schiedsrichterpfeife notfalls zertrilliert wurden. Bisst fiel nicht mehr unter das Gesetz der anderen. Er war das Gesetz selbst! Dieser Bisst macht sich selbst also etwas vor - aber "regelrecht". Er ist damit auch vom Holz, aus dem die bürgerlichen Helden sind. Er verdichtet seinen Blickwinkel, wird die Negation der lebendigen Vielfals und triumphiert in der Einfalt. Aber Helden sterben bekanntlich am Heldentum. Die Kunde ihrer zeitlich begrenzten Taten mag dann nur noch Gymnasiasten zum Grauen gereichen, wenn daran Grammatikübungen unter Aufsicht der Schulmeister zu vollbringen sind.
Bissts Tragik ist, dass es für ihn keinen Heldentod gibt. Er kommt noch einmal davon. Kein Schlachtenbummler könnte berichten, ihn in irgendeinem Stadion liegen gesehen zu haben, wie das Gesetz es befahl. Bisst ist in diesem Punkt moderner. Statt des physischen Todes stirbt er symbolisch. Das ist Tod auf einer anderen Ebene, die Weiterleben ohne Transzendenz zulässt. Er reduziert sich, rutscht von einer Puppe in der Puppe in die nächst kleinere.
Die Höllenfahrt eines Menschen von der allgemeinen Vielfalt zur besonderen Einfalt hat etwas Erschütterndes. Wo sonst Fantasie die Welt zu weiten vermag und Utopie einen Zipfel vom immerhin in Zukunft Möglichen lüpfen könnte, verengt er das Leben zum Flaschenhals: - wenn Bisst die Richter vor Gericht samt Pflichtverteidiger ablehnt, weil seine Entscheidungen vorrangig sind. Heißt es doch im Regelwerk: Schiedsrichterentscheidungen sind unumstößlich! - wenn Bisst jede ihm begegnende Autorität ungeprüft als Platzwart abqualifiziert. - wenn Bisst Zwischenmenschliches, Anteilnahme und Güte nur als Pausenfüller im Spiel zu geben weiß und alles verrät, sobald der Anpfiff ertönt.
Das sieht für den Betrachter unterhaltsam aus, wie dieser Saurier, für den es offenbar keine Kreide gibt, seinen Weg durch die Normalität fräst. Einer, an dem die Krankenkassen keine Freude haben. Ein unverwüstlicher Alter, der dem Leben ein Schnippchen schlägt? Vorsicht!
Zum Ende des Films verschwindet er auf einer jener Straßen, die der Story keinen Endpunkt setzen. Günter Kunerts Drehbuch weist ihm keinen Platz auf dem Podest für Sonderlinge zu, wo er evtl. gefahrlos zu betrachten wäre. So lässt ihn auch Regisseur Rolf von Sydow ohne Rücksicht auf die Folgen in den Alltag entkommen. Es scheint, als hätte Wolfgang Kieling in der Person dieses vieldeutigen Karl Bisst seine diabolische Freude daran, sich eine kickende und pfeifende Unsterblichkeit zu sichern - als Provokation. Vorsicht also, wenn man Karl Bisst treffen sollte. Die Menschen nehmen von jeher Schaden durch den Egoismus der Spezies. Wer "mitspielen" wollte, hätte schon verloren.
Den Autor des dem Film zugrunde liegenden kleinen Romans "Die Wahrheit des K. Bisst" - sein einziges Buch - konnte diese Figur offenbar nicht festhalten. Kurze Zeit nach Abfassung des Stoffes schied Lorenz Lotmar vorzeitig aus dem Leben, freiwillig, wie man so sagt.
(Quelle: Nikolaus Richter in "Das Fernsehspiel im ZDF", Heft 47, Dez. 1984 - Febr. 1985, Information und Presse, Mainz)
Layout: Rosemarie Kuheim Bearbeitet: 13. Dezember 2020
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