Der Fall Woyzeck 1981
Inhalt
Während für Georg Büchner, den Dichter des "Woyzeck" die Lebensumstände des geschichtlichen Vorbildes kaum mehr als charakteristische Details waren, bilden sie für das Drehbuch des Dokumentarspiels die eigentliche Grundlage. Es stützt sich auf Fakten, rekonstruiert und ist um die Erstellung eines möglichst authentischen Psychogramms des historischen Woyzeck bemüht. Analog in den Film eingeschnittene Szenen aus den verschiedenen Versionen des Büchnerschen Dramenfragmentes stehen Dichtung und Vorbild vergleichend einander gegenüber. Die mehrfache Konfrontation der nachgespielten Wirklichkeit mit dem Literaturwerk dient nicht nur der Ordnung des Quellenwertes, sondern macht auch deutlich, was Georg Büchner meinte, als er in seinem Brief vom 28. Juli 1835 schrieb: "Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindet und schafft Gestalten ...".
Der Autor zum Thema: Am 21. April des Jahres 1821 ersticht der 41jährige Frisör Johann Christian Woyzeck seine Geliebte, die um fünf Jahre ältere Witwe des Chirurgus Woost, im Hauseingang ihrer Wohnung auf der Sandgasse in Leipzig. Kurz darauf wird er festgenommen. Er ist sofort geständig und behauptet später, "er würde sich, wenn er nicht arretiert worden wäre, sicherlich noch in derselben Nacht das Leben genommen haben.
Ein klarer Fall: Mord aus Eifersucht. die Nachbarn können bezeugen, wie schlecht sich das Verhältnis zwischen Woyzeck und der Witwe anließ. Immer wieder gab es Szenen, Streit, auch zu Misshandlungen ist es gekommen. Denn Woyzeck war bei der Woost nicht der einzige Mann. Die Frau, alles andere als eine Schönheit, trieb sich mit den Soldaten der Stadtwache herum. Sie galt weder als besonders wählerisch, noch als schwer zu gewinnen. Woyzeck wurde immer mehr von ihr vernachlässigt. Mit diesem heruntergekommenen, abgerissenen Mann, diesem Arbeitslosen, mochte sie sich zuletzt nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen. Der Gedanke, sich für die erlittene Demütigung zu rächen, mochte schon lange in Woyzeck gelebt haben. Es bedurfte wohl nur einer neuerlichen Zurückweisung, um das Fall zum Überlaufen zu bringen.
Das Gerichtsverfahren wird eingeleitet. Woyzecks Verteidiger insistiert sofort auf Unzurechnungsfähigkeit: Sein Mandant habe die Tat in einem Zustand der Geistesgestörtheit begangen. Er verlangt eine gerichtsärztliche Untersuchung. Sie wird angeordnet und der Königlich Sächsische Hofrat Dr. Clarus als Gutachter bestellt. Nachdem er Woyzeck untersucht und sich mit ihm mehrere Male ausgiebig unterhalten hat, befindet er, es ergebe sich bei dem Angeklagten kein Hinweis auf geistige Störungen irgendwelcher Art. Er stellt die volle Verantwortlichkeit des Mörders für seine Tat fest. Das bedeutet das Todesurteil.
Inzwischen hat Woyzeck jedoch einem Geistlichen erzählt, er habe schon Jahre vor dem Mord "fremde Stimmen um sich gehört" und Geistererscheinungen gehabt. Darauf wird die Vollstreckung ausgesetzt. Das Gericht stimmt zwar der Einholung eines neuen Gutachtens zu, beauftragt mit seiner Erstellung jedoch abermals Dr. Clarus. Anfang 1823 erhält er die gesamten Prozessakten zur Einsichtnahme (sie gelten inzwischen als verschollen). Aber auch nach Auswertung der Vernehmungsprotokolle und der Zeugenaussagen kommt Clarus zu keinem anderen Ergebnis als beim ersten Mal: "Woyzeck zeige zwar "viel moralische Verwilderung, Abstumpfung gegen natürliche Gefühle wahre Gleichgültigkeit in Rücksicht auf Gegenwart und Zukunft, auch Mangel an äußerer und innerer Haltung", weise aber keinerlei Merkmale von Geistesgestörtheit auf. Dass Woyzeck jetzt von Träumen erzählt, die ihm die geheimen Erkennungszeichen der Freimaurer entschleiert hätten; dass er feurige Gesichter am Himmel gesehen haben will; dass ihm vor der Mordtat angeblich eine Stimme zugeraunt habe: "Stich die Woostin tot!", dass alles hält Clarus mehr oder weniger für Zwecklügen.
Zwar treten Zeugen auf, die Woyzecks merkwürdige Angstzustände miterlebt haben, die bestätigen, dass er von Visionen geplagt wurde und sich von Stimmen verfolgt fühlt. Doch der Gutachter vermag darin nichts Pathologisches zu entdecken. Auch am Lebensweg des Angeklagten kann er nichts Anormales finden. Gewiss, er sei eine unstete Natur, er habe alle möglichen Berufe und doch keinen richtigen. Er habe das Handwerk eines Perückenmachers erlernt, dann mit achtzehn den Beruf verlassen, um auf Wanderschaft zu gehen; sei bald als Bedienter, bald als Krankenpfleger, bald wieder als Frisör aufgetreten; war zwölf Jahre lang Soldat, lief davon, begann von neuem, wurde verabschiedet, hatte Zeiten völliger Beschäftigungslosigkeit; kehrte im Winter 1819 - damals war er bereits 38 - nach Leipzig zurück, bewarb sich als Stadtsoldat, wurde abgewiesen und lungerte seitdem arbeitslos und zunehmend verdrossen in verschiedenen Schlafstellen herum; musste zeitweise im Freien nächtigen; bettelte auch; stahl sogar. Und er ist jähzornig und gewalttätig! Schon als er nach Stralsund zu den Soldaten ging, war das eine Flucht, in Leipzig durfte er sich nicht mehr blicken lassen, hier suchte ihn die Polizei. In wütender Eifersucht hatte er seiner damaligen Freundin, der Schindel, mit dem Hausschlüssel "zwei Schläge auf den Kopf versetzt und ihr eine Wunde von der Größe eines Kupferdreier beigebracht". Auch die Woost hat er mehrfach misshandelt, einmal so schwer, dass er dafür mit acht Tagen Arrest bestraft wurde.
Woyzecks Bindungen an Frauen wechselten. 1810 schien er in Stralsund entschlossen, eine gewisse Wienberg zu verheiraten, mit der er ein Kind hat. Sein Offizier versprach, ihm die nötigen Papiere zu besorgen, alles schien in Ordnung, da ließ Woyzeck plötzlich die Frau mit dem Kind sitzen. In Leipzig, wohin er im Winter 1819 zurückkehrte, findet er Quartier bei der Witwe seines ehemaligen Lehrherrn Cnobloch. Sie ist die Stiefmutter der Woost, die er bereits kannte, als sie noch mit dem inzwischen verstorbenen Chirurgus Woost verheiratet war. Er gewinnt sie leicht, kann sie aber nicht an sich binden, immer wieder bandelt sie mit Stadtsoldaten an. Da setzt es Streit und Lärm im Quartier. Woyzeck fliegt raus. Er lauert ihr auf, wenn sie mit anderen zum Tanz geht, wird zurückgewiesen, seiner Armut wegen verspottet. Diese Szenen wiederholen sic h. Das Ende sind sieben Degenstiche...
Das alles ist haltlos, fahrig geworden, gewiss. Allein ein Verhalten, das es Clarus erlaubte, dem Delinquenten Unzurechnungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat zu attestieren, vermag er darin nicht zu erblicken. Was trieb Woyzeck ins Verbrechen? Von der Frage nach der sozialen Indikation sind Gutachter und Richter gleich weit entfernt. Die Umstände seines Lebens werden sorgsam registriert, aber niemand zieht Schlüsse aus ihnen. Dass es gerade diese Lebensumstände der geschundenen und getretenen Kreatur Woyzeck waren, die ihn zur Auflösung aller Bindungen zur Umwelt trieben, auf diese Idee kam damals niemand. Statt dessen präsentiert Clarus in seinem zweiten Gutachten voll Abscheu und Entrüstung einer "sittlich gefestigten Gesellschaft" Woyzeck als einen Mann, an dessn schädlichem Beispiel man lernen möge, wohin "Arbeitsscheu, Spiel, Trunksucht, ungesetzliche Befriedigung des Geschlechtstriebes und schlechte Gesellschaft" führen können. Im übrigen schließt er abermals mit der Feststellung, Woyzeck sei für seine Tat voll verantwortlich. Damit ist das Schicksal besiegelt. Am 17. August 1824 wird Woyzeck vor dem Leipziger Rathaus öffentlich hingerichtet.
(Quelle: Broschüre Das Fernsehspiel im ZDF, März bis Mai 1981, herausgegeben vom Zweiten Deutschen Fernsehen, Informations- und Presseabteilung)
Layout: Rosemarie Kuheim Bearbeitet: 9. Mai 2024
Die o.g. Angaben zum Film sind nach bestem Wissen gesammelt, aufgeschrieben und bearbeitet worden und enthalten zum Teil Texte aus fremden Webseiten bzw. literarischen Quellen. Weiterhin möchte ich bemerken, dass ich auf Inhalte zu externen Webseiten keinen Einfluss habe und keine Gewähr dafür übernehmen kann. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich. Die verlinkten Seiten wurden zum Zeitpunkt der Verlinkung auf mögliche Rechtsverstöße überprüft. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten ist jedoch ohne konkrete Anhaltspunkte einer Rechtsverletzung nicht zumutbar. Bei Bekanntwerden von Rechtsverletzungen werden derartige Links umgehend entfernt. Sollten mir bei den o.g. Angaben Fehler unterlaufen sein, so werden diese bei entsprechender Nachricht und Kontrolle ebenfalls entfernt bzw. korrigiert. |