Max von der Grün:

Intoleranz einer Mehrheit

 

(zum Film Die Vorstadtkrokodile, aus der Broschüre "ARD Fernsehspiel" 10-12/1977)

 

 

 

 

Schriftsteller Max von der Grün

Max von der Grün

Urheber: Pendragon Verlag/Jennifer von der Grün

(entnommen der Wikipedia-Seite)

Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ lizenziert.

Wie kommt einer, der im Rollstuhl fahren muss, in die Eisenbahn, in die Straßenbahn, in die U-Bahn? Alleine schon gar nicht, es sei denn, er hat zwei Helfer, und auch da ist es schier unmöglich, Treppen oder Rolltreppen zu überwinden. Da ich selbst einen behinderten Jungen habe, der im Rollstuhl gefahren werden muss, kenne ich das Problem ziemlich gut und auch das finanzielle Problem. Es gibt einen Freibetrag für Lohnempfänger, Gehaltsempfänger und für Freiberufliche, gegenwärtig sind das 7200 DM.

Oft ist es so, dass dieser Betrag nicht ausreicht für die Pflege und spezielle Anschaffungen, dann wird vom Finanzamt die Zumutbarkeit geprüft, ob man den Betrag, der über der Summe des Freibetrages liegt, selbst tragen kann oder nicht. Da sind zum Beispiel spezielle Fahrräder, Rollstühle (sie kosten zwischen 700 und 3500 DM), therapeutische Geräte und was da so anläuft im Laufe der Zeit, denn der Behinderte wird ja schließlich auch älter.

 

So wie die Öffentlichkeit sich vor der Problematik der Behinderten drücken will, an einer konkreten Stellungnahme vorbeimogeln will, so tun das auch die Arbeitgeber, es steht kaum einem Behinderten ein Arbeitsplatz zur Verfügung, lieber zahlen die Unternehmer, bevor sie einen Behinderten einstellen. Im Gegensatz zu Schweden und den Vereinigten Staaten sind unsere Bürgersteige nicht abgerundet an bestimmten Übergängen, damit ein Rollstuhlfahrer allein sich fortbewegen kann und keine fremde Hilfe für sich beanspruchen muss. In öffentliche Ämter zu gelangen, ist sowieso unmöglich, es gibt keine Auffahrrampen, nur Treppen, und manchmal muss man schon ein Artist sein, will man sie bewältigen. In manchen Gebäuden finden sich nur Paternoster und keine Aufzüge.

 

Unsere Gesellschaft gebärdet sich so, als sei nur der Gesunde existent, habe ein Recht auf Leben und ihm allein stehe Bewegungsfreiheit zu, jeder tut so, als könne ihm nichts passieren, als habe er die Jugend ein Leben lang gepachtet. Ein Rollstuhlfahrer ist ein Ärgernis, er versperrt Zugänge und Wege. Gut - man hat für seine traurige Lage Verständnis, besser aber ist, er bleibt in seinen vier Wändern. Manche starren Behinderten, insbesondere wenn sie noch eine geistige Behinderung dazu kommt, nach, als wären da exotische Tierchen aus dem Urwald gekommen.

Kaum einer macht sich Gedanken darüber, was es heißt, den Tagesablauf eines Behinderten zu begleiten. Sie müssen getragen werden, gewaschen, aufs Klo gesetzt, zu Bett gebracht werden; was es heißt für Elternm das Tag für Tag zu tun, Tat für Tag präsent zu sein. Urlaub ist oft deshalb nicht möglich - nicht weil das Geld fehlt - sondern weil auch gute Pensionen und Hotels für Behinderte einfach nicht eingerichtet sind. Es gibt Aufnahmen, aber es sind eben Ausnahmen.

 

Was die Zukunftsaussichten anbelangt, so bleibt das sowieso dunkel, das Problem für die Eltern beginnt ja erst richtig, wenn ein Junge oder ein Mädchen die Behindertenschule verlässt, es gibt Möglichkeiten für Heimarbeit, aber auch das sind Rosinen im Kuchen.

Behinderte Kinder sind in der Regel von der Gemeinschaft anderer Kinder ausgeschlossen, weil sie nicht an deren Spielen teilhaben können, und das ist ein großes psychologisches Problem, das kaum lösbar ist, der junge Mensch fühlt sich permanent ausgeschlossen, überflüssig, unnütz.

 

Eine Gesellschaft muss immer daran gemessen werden, wie sie mit Minderheiten umgeht, wie sie Minderheiten bewertet, ausschließt oder integriert. Auch wenn es heute zum Teil gut eingerichtete Schulen gibt - die Anfahrtwege zur Schule sind nicht selten anderthalb Stunden auf dem Land - so löst die Schule nicht das Problem, was aus dem Behinderten wird, wenn sie ihn entlässt. Wir sind so vom Leistungsdenken eingemauert, dass uns einer, der nicht daran gemessen werden kann, fremd vorkommt, suspekt ist, nicht aus bösem Willen heraus, einfach nur aus Gedankenlosigkeit, finde ich, und das ist die Erfahrung, die ich mit meinem Jungen in der Gesellschaft gemacht habe, ist nur eine andere Form von Bosheit, Intoleranz.

 

Max von der Grün, 1977

    

 

 

 

 

  

    

Layout: Rosemarie Kuheim

Bearbeitet: 25. Juli 2022